Simon Boccanegra

Mit seinem Simon Boccanegra stellt Giuseppe Verdi den Politik-begriff auf eine theatralisch außerordentliche Art und Weise in Frage. Verdi führt im Boccanegra eine Trasformation des vollkommen Irrealen in der Geschichte der italienischen Politik durch, deren Entstellung sich unter der Oberfläche des Risorgimento-Librettos verbirgt. Auch wenn Verdi von der mittelalterlichen Figur des Simone Boccanegra ausgeht, übersteigt das Leben Simons in der Dramatisierung Verdis eine simple historische Verortung und beschränkt sich nicht darauf, eine simple Parallelität zu suggerieren. Da ich mich zu dieser interpretatorischen Linie bekenne, konzentriert sich meine Inszenierung auf die Dialektik von historischer Realität und historischem Ideal. In meiner Vorstellung ist Simon kein Politiker und gehört nicht zur politischen Welt, er ist eine Scheinfigur, ein romantisch-moderner Held, bewegt von mutigen Überzeugungen und gequält von schmerzhaften privaten Erfahrungen.

Vermittelt durch das Leben Simons hat Verdi in jeder Hinsicht versucht, seinen Aufruf zu einem Risorgimento-Ideal von Frieden und Liebe in Musik zu übersetzen. Im Libretto greifen ein genauer Realismus und unwahrscheinliche Situationen ineinander, während gleichzeitig die Stimme Verdis die Sehnsucht nach Veränderung in einem skrupellos korrupten politischen System hörbar macht. Mit verbittertem Ton und einem unbeugsamen Blick – sei es im Hinblick auf die historischen Ereignisse im Zusammenhang mit der Geburt der Ersten Republik von Genua, sei es in den Anspielungen auf die politischen Ideale Italiens im 19. Jahrhundert, im Zeitalter des Risorgimento – stellt Verdi ein politisches System dar, das gebildet ist aus Gruppierungen und Splitterparteien besteht, deren Ideologien derart deformiert sind, dass es unmöglich erscheint, ihre allgemeine Grundsätze zu verstehen.

In der Tat reicht die Tendenz der italienischer Regierungen zu einer Kompromiss- und Klientelpolitik mit kurzfristigen Geschäften und Vereinbarungen, Gunstgewährungen, Stimmenkauf, massiven politischen Einmischungen in die Verwaltung des Landes durch die Jahrhunderte bis in unsere Gegenwart. In meiner Interpretation des Simon Boccanegra ziehe ich daher eine Parallele zwischen den lokalen und regionalen Ereignissen der Ersten Seerepublik im Mittelalter und der langen Periode der Nationalpolitik, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, die als „Erste Republik“(1948-1994) bezeichnet wird. Durch die Zeitspannevon 25 Jahren, die zwischen dem Prolog und den drei Akten der Oper liegt, ist es möglich, eine Inszenierung zu entwickeln, die das allgemeine Klima der Jahre der „Ersten Republik“ ins Zentrum rückt, die Zeichen ihrer Schwächung durch die kulturelle Revolution der 1970er Jahre, das Phänomen der Säkularisierung und des Wirtschaftswunders, um schließlich mit dem Zusammenbruch des Systems zu Beginn der 1990er Jahre im Zeichen der massiven Schmiergeldzahlungen („Tangentopoli“) an die gesamte politische Klasse des Landes zu enden.

 

In dieser Inszenierung möchte ich die in der Erzählung vorhandenen irrealen Elemente herausfiltern, indem ich die Interventionen des Chores in extrem symbolische Bilder verwandle. Diese Symbole beziehen sich sowohl auf die Situation des Italiens jener Jahre, als auch auf Simones Wahrnehmung der verzerrten Realität, die ihn umgibt-eine Realität, die er nicht begreift. Gleichzeitig besteht die Inszenierung aus Elementen eines sehr genauen Realismus’ und historischen Dokumentationen, zusammen mit impressionistischen und gelegentlich allegorischen Bildern. Die Psychologie der Figuren wird unterstützt durch Erscheinungen, Obsessionen und Erinnerungen, die die untrennbare Verbindung ihres privaten Lebens mit der Abfolge der sich überschlagenden politischen Ereignisse unterstreichen.

Press comments

…"Ist eine halbszenische Aufführung überhaupt in der Lage, die teilweise verworrenen Vorgänge glaubhaft zu offenbaren? Als Regisseurin hatte man in Erfurt buchstäblich in letzter Minute Pamela Recinella gewonnen, die bis dato Assistenzen an bedeutenden Opernhäusern Europas aufzuweisen hat. Die junge Frau hatte Mut zum Risiko. Und der zahlte sich aus. Der Anspruch ist kühn, wenn nicht gar vermessen. "In meiner Interpretation des Simon Boccanegra ziehe ich…eine Parallele zwischen den lokalen und regionalen Ereignissen der Ersten Seerepublik im Mittelalter und der langen Periode der Nationalpolitik nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, die als Erste Republik(1948-1994) bezeichnet wird." Was sie in der Kurze der Zeit(14 Tage!!) auf die Buhne gebracht hat, macht sprachlos, mutet sensationell an. Im Fundus suchte sie nach passende Requisiten, bezog indirekt das Orchester in das Geschehen mit ein (eine Treppe macht den nach oben gefahrenen Orchestergraben für die Solisten zugänglich) und entwickelte eine Lesart, die die Handlung überschaubar gestaltet. Paolo Albiani sieht in Boccanegra einen vermeintlich leicht zu manipulierenden Spielball und schlägt ihn dem Volk als Dogen vor. Paolo fordert seinerseits für die Wahlkampfdienste Anteil der Macht des künftigen Herrschers über Genua. Boccanegra ist infolge persönlicher Gegebenheiten nicht dazu bereit. Sein Fall ist damit besiegelt und nur noch eine Frage der Zeit. In dieses politische Spannungsgefüge baut die Regisseurin die Familiäre Tragödie  Boccanegras klug ein. Natürlich spannt sie den Bogen dabei sehr weit…aber die Kaempfe um die Macht sahen damals nicht anders aus als heute. Es stimmt schon bedenklich, wenn man sieht, wie diejenigen, die Dreck am Stecken haben, versuchen, sich rein zu waschen. Fast hatte es den Anschein, als wichse das Erfurt Opernensemble an diesem ungewöhnlichen Premierenabend über sich hinaus."

Christoph Suhle " Der neue Merket" 05.2013

"Verzerrte Realität.

Pamela Recinella hat dieses Werk halbszenisch für das Theater Erfurt arrangiert. In ihrer Interpretation des Simon Boccanegra zieht sie eine Parallele zwischen den lokalen und regionalen Ereignissen der mittelalterlichen Seerepublik Genua und der Ersten Republik Italiens nach dem Zweiten Weltkrieg. Durch den Zeitsprung von 25 Jahren in dem Werk vergleicht sie die Situation mit den 1970-er zu den 1990-er Jahren in Italien, mit ihrem maroden und korrupten Politsystem unter Bettino Craxi. Das ganze wird garniert mit eingeblendetem Videomaterial dieser Zeit. Entsprechend sind die Kostüme und die wenigen Bühnenrequisiten von Norman Heinrich ausgestattet. Im Mittelpunkt ihrer Interpretation steht Simones Wahrnehmung einer verzerrten Realität, die ihn umgibt. Es ist eine Realität, die er nicht begreift, und mit der auch das Publikum so seine Schwierigkeiten hat. Es ist ein interessanter Ansatz, der jedoch das Publikum überfordert, denn ohne tiefergehende Kenntnisse der politischen Situation Italiens in dieser Zeit und ohne eine profunde Werkkenntnis sind manche Darstellungen nur schwer nachvollziehbar.

Dennoch schafft es Recinella, die einzelnen Charaktere wunderbar herauszuarbeiten und die Handlung ohne jegliche Übertreibung klar zu erzählen. Dazu braucht es auch keiner historisierenden Bilder. Die Psychologie der Figuren wird unterstützt durch Erscheinungen, Obsessionen und Erinnerungen aus der Vergangenheit. Als Amelia sich an ihre Kindheit erinnert, wandert symbolisch ein kleines Mädchen durch die erste Reihe im Zuschauerraum. Im Sterben erscheint Simon Boccanegra seine geliebte Maria als reale Frau, die ihn auf seinem letzten Weg begleitet. Und es sind die drei Beziehungsebenen der Figuren untereinander, die dieses Werk charakterisieren. Simon und Fiesco, die Todfeinde; Simon und seine Tochter Amelia sowie Amelia und ihr Geliebter Todfeinde; Simon und seine Tochter Amelia sowie Amelia und ihr GeliebterAdorno. Die Duette und Terzette untereinander sind die musikalischen Höhepunkte des Werkes. So gerät diese halbszenische Aufführung zu einem grandiosen Theaterabend, auch weil das Orchester auf der Bühne drapiert ist und die Zuschauer ohne trennenden Orchestergraben viel dichter und intensiver am Geschehen beteiligt sind.

Durch die halbszenische Inszenierung gelingt es den Solisten, ein intensives Rollenspiel abzuliefern, das ein Höchstmaß an sängerischer und schauspielerischer Qualität erfordert. "

Andreas H. Hölscher Opernnetz 30.04.13

"In Verdi-Oper entlocken die Klangen den solisten das Beste.

Regisseurin Pamela Recinella bestand mit "Simon Boccanegra" ihre Feuertaufe am Erfurter Theater.

Dem Team Pamela Recinella (Regie) und Norman Heinrich (Ausstattung) gebührt der Lorbeerkranz für eine Inszenierung, die der Einsicht "triste liberta" des alten Fiesco gründlich entgegensteht. Dabei wirft der zuverlässig wie gut singende Opernchor, eine scheinheilige Parlamentariergruppe mit Kreuz in den Händen, ein spiegelndes Licht auf das Publikum und verweist in seinem finalen Schwarz auf antike Vorbilder. Pamela Recinellas Regie stiftet mit treffsicherem Gespür für Details ganzheitlichen Eindruck. Die Italienerin bestand ihre Feuertaufe, und dies nicht nur, weil sie Videosequenzen aus der Geschichte Italiens pointiert einsetzt oder Von-uns-Gehen des vergifteten Protagonisten ergreifend inszeniert. Die Kompromisslosigkeit Pamela Recinellas erfrischt. "Simon Boccanegra" ist ein würdiger Beitrag des Erfurter Theaters zum 200 Geburtstag von Giuseppe Verdi. "

Ursula Mielke, Thüringer Allgemeine 30.04 2013

"In der Regie der Italienerin Pamela Recinella nämlich schien gar nicht so sehr die Todfeindschaft zwischen Dem Dogen (….) und seinem Widersacher Jacopo Fiesco im Zentrumder Handlung zu stehen. recinella transferierte die Republik Genua des14. Jahrhunderts vielmehr in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und fokussierte stärker auf die italienische Realpolitik und den Dolchstoß, den der ehrgeizige Aktenkofferträger Paolo Albiani auf den Dogen verübte. Die Regisseurin zeigte Albiani, (…) als eigentlichen mafioesen Drahtzieher im Hintergrund…. Dabei erweis Albiani sich nur als Korrupt entlarvten Volksvertretung, (…) verwandelten Mitglieder des Opernchors in die italienischen Parlamentarier, die im Schatten ihres weiss gewandeten Dogen ganz ungeniert Schmiergeld zählten.

Zum Glück, muss man sagen, liess sich das komplexe Gedankenkonstrukt  der Regisseurin mit Anspielungen auf die genuesische Republik, das Risorgimento des 19. Jahrhunderts bis hin zur so genannten Ersten Republik der Jahre 1948 bis 1994 auf der Bühne allenfalls erahnen. Vereinzelte Videoeinblendungen von italienischen Studentenrevolten oder TV-Sendungen wirkten sogar regelrecht deplatziert.

 

Doch der Doge, in der Lesart der Regie eine unwirkliche Lichtgestalt der nationalen Einigung, des Friedens und der Versöhnung, reichte dem Grossvater seiner Tochter schließlich die Hand (..) Im Schlussbild verklärte die Inszenierung den Dogen gar zum Engel: Sei's drum, träumen wir doch alle gern. "

Jan Kreyssig , TLZ 30.04 2013

"Das Orchester stapelt sich vom Orchestergraben bis zum Portal. Die Spielfläche dieser tiefstapelnd als semikonzertant angekündigten Produktion, erstreckt sich nur auf einer schmalen Fläche zwischen Rampe und Hinterbühne. Durch verschiedene Vorhänge (auch halbdurchsichtig oder Spiegelwand) wird der schmale Raum zur Hinterbühne immer wieder abgetrennt, durch Beleuchtungseffekte entstehen immer neue Bilder. Hinzu kommen noch Tribünen für den Thron des Dogen und die Parteien im Parlament. Durch die Verlagerung in die heutige Zeit werden durch die Kostüme Bezüge der Handlung zu den heutigen sozialen und politischen Gegebenheiten möglich: Konservative (Nobili) tragen dunkle Anzüge, Linke (Plebejer) legere Anzüge, das Volk agiert im Chor im Arbeitskittel oder Straßenkleidung, Carabinieri regeln die Gänge in Uniform und die Presse tritt mit Kamera auf.

Nur etwa 2.000 Euro soll diese Produktion gekostet haben, deren Ausstattung im Wesentlichen aus anderen Produktionen übernommen wurde. Auch die Probenzeit war zeitlich sehr beschränkt, und trotz (oder gerade wegen?) dieser Streßsituation gelingt es Pamela Recinella, sich auf die reine Darstellung der Handlung zu konzentrieren. Für Regieeinfälle bleibt keine Zeit – aber dank solider und geschickter Personenführung vermißt das kaum jemand. Die Darsteller können sich auf die Darstellung ihrer Rollen konzentrieren und Kartal Karagedik gelingt es, die schwierige Titelrolle beispielhaft umzusetzen. Das Publikum feiert die Produktion ausgiebig. mehr wert sind, als viele der üblichen Produktionen an deutschen Opernhäusern."

Oliver Hohlbach, Operapoint

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